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Bericht von Spiegel online über den Demjanjuk-Prozess, 11.05.2011

Ausländische SS-Gehilfen

Tanz am Todeslager

Von Jan Friedmann

Sie gelten als „Fußvolk der Endlösung“: Ausländische Mordgehilfen unterstützten im Zweiten Weltkrieg die SS. Das Landgericht München muss jetzt im Urteil gegen den mutmaßlichen Lagerwachmann Demjanjuk entscheiden, ob die „Trawniki“ frei entscheiden konnten. Offenbar gab es Chancen zur Flucht.

Alle zwei Wochen war der Amateurmusiker Kazimierz Ruzkowski für einen Abend in der Bahnstation von Sobibór gebucht. Seine Auftraggeber, damals während des Zweiten Weltkriegs: Wärter aus dem nahe gelegenen Vernichtungslager. „Ich spielte dann mehrere Stunden lang Ziehharmonika und sie tanzten“, erzählte der Landarbeiter später.

Gelegentlich trat der Musiker auch in den umliegenden Dörfern auf. Dort warteten schon die ukrainischen Freundinnen auf ihre Liebhaber: „Die Wachmänner waren sowjetische Kriegsgefangene, die in Hitlers Dienste getreten waren“, gab Ruzkowski zu Protokoll. Die Aussage nahm ein Ermittler aus Lublin 1968 auf, der deutsche Verbrechen im besetzten Polen untersuchte. Sie geriet in Vergessenheit.

Der wohl an diesem Donnerstag zu Ende gehende Prozess gegen den mutmaßlichen KZ-Wachmann John Demjanjuk in München hat solche Quellen wieder ans Licht gebracht – das Verfahren glich einer gigantischen Papierschlacht. Viel Material stammt aus osteuropäischen Archiven, etwa aus der ehemaligen Sowjetunion. Oder aus Polen, wie ein Konvolut, das der Rechtsvertreter der Nebenkläger, der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler, zusammengetragen hat.

„Das Geld besaßen sie von den Gefangenen“

Der 91-jährige gebürtige Ukrainer Demjanjuk gehörte mutmaßlich zu den Trawniki-Männern, einer nach ihrem Ausbildungsort Trawniki benannten, rund 5000 Mann starken Schar aus Osteuropäern. Sie bewachten für die Deutschen Vernichtungslager oder räumten jüdische Ghettos. Der US-amerikanische Historiker Peter Black charakterisiert sie als „Fußvolk der Endlösung“. Neben ihrem Mordgeschäft hatten die Männer aber offenbar auch Zeit für Muße.

Denn die ausländischen Helfer konnten sich überraschend frei bewegen, so erzählten es jedenfalls unter anderem Anwohner des Vernichtungslagers Sobibór. Die „Schwarzen“, wie die Trawnikis ihrer dunklen Uniformen wegen genannt wurden, verbrachten Teile des Tages ohne Aufsicht. Ein polnischer Eisenbahner beobachtete: „Die Wachmänner hatten nach dem Dienst frei, fuhren in die nahe gelegenen Dörfer zum Tanz und tranken dort Wodka. Das Geld dafür besaßen sie von den Gefangenen aus dem Lager.“

Über ihre grausame Arbeit sprachen die Aufseher offen. Ein Gleisarbeiter berichtet, er habe bei einem Plausch mit einem Wachmann erfahren, „dass die mit den Transporten ankommenden Juden sich nackt ausziehen mussten und danach in Gaskammern geschickt wurden“.

Dass nicht nur deutsches SS-Stammpersonal, sondern auch ausländische Gehilfen mordeten, sagten später mehrere Zeugen aus. Ein Pole konnte einen Blick auf das Gebäude erhaschen, in dem die Juden vergast wurden. „Sie wurden von Wachmännern in schwarzen Uniformen und mit schwarzen Feldmützen dahin getrieben.“ Andere Anrainer beobachteten, wie Trawniki-Männer Juden erschossen.

Solche Aussagen dürften beim Urteil gegen Demjanjuk eine große Rolle spielen, auch wenn der Namen des Angeklagten nirgendwo auftaucht. Denn in seiner Bewertung muss das Gericht auch generell darüber befinden, welche Handlungsspielräume die ausländischen SS-Gehilfen hatten: Konnten sie sich dem Morden entziehen, etwa durch Flucht? Oder mussten sie gehorchen, um ihr eigenes Leben zu retten?

Strengere Maßstäbe der Justiz

Lange machte es die Rechtsprechung ehemaligen Nazi-Schergen leicht: Wer belegen konnte, er habe Befehle ausgeführt in dem unvermeidbaren, irrtümlichen Glauben, dass ihm sonst Gefahr gedroht hätte, konnte mit Milde rechnen. „Putativnotstand“ heißt die Formel aus dem Paragrafen 35 des Strafgesetzbuches, wegen der selbst schwer belastete Täter davonkamen. Neuerdings legt die Justiz bei NS-Tätern strengere Maßstäbe an.

Nach Recherchen des Nebenkläger-Anwalts Nestler konnten sich mindestens 160 der rund 1500 namentlich bekannten Trawnikis aus dem Dienst davonmachen. Gelegenheiten dazu gab es reichlich: So berichtete die polnische Bäuerin Rozalia Krasowska, wie ihr Mann, ein Fischer, häufiger flüchtige Wachmänner mit SS-Emblemen über den Fluss Wieprz bei Trawniki brachte.

Als die kriegsgefangenen Soldaten der Roten Armee in deutschen Dienst traten, wollten sie zweifelsohne zunächst ihr eigenes Überleben sichern. Doch blieben viele, weil sie Gefallen an der Arbeit fanden? 300 Gramm Gold, so gestand ein Wachmann sowjetischen Stellen, konnte er in einem Jahr zusammenraffen. Als die Deutschen ihn erwischten, wurde er nur strafversetzt. Allerdings erschossen deutsche Gendarmen 1943 acht ukrainische Wachmänner, die aus dem Konzentrationslager Auschwitz desertiert waren. Welche Bedeutung die Kammer den Fluchtchancen der Trawnikis beimisst, lässt sich aus einem Beschluss vom Mai des vergangenen Jahres ersehen. Darin weisen die Richter einen Antrag von Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch ab, das Verfahren auszusetzen. Begründung: Die Annahme, dass die Trawnikis keine Fluchtmöglichkeit zu haben glaubten, sei durch die hohe Zahl erfolgreicher Desertionen widerlegt.

Quelle

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/auslaendische-ss-gehilfen-tanz-am-todeslager-a-761214.html

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