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Erinnerungsbericht über Aufstandspläne in Sobibor im Oktober 1943

Der Plan

Am Abend des 10. Oktober traf sich der Kern der Organisatoren in der Tischlerei. Trotz einiger Einwände war es notwendig, die Kapos Poźycki und Bunio in die Verschwörung einzuweihen, besonders deshalb, weil Poźycki ohnehin schon Verdacht geschöpft hatte. Zudem konnte der Plan mit Ihrer Hilfe viel leichter ausgeführt werden. Ihre Position würde es den einzelnen Gruppen ermöglichen, in verschiedenen Lagerbereichen die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

Eine leise Diskussion war im Gange. Damit keiner mithören konnte, lief im Hintergrund eine Schallplatte mit alten russischen Volksliedern. Die Organisatoren bildeten eine feste Kommandantur, und obwohl Leon der Initiator und Anführer der Verschwörung war, übertrug er Sascha die technische Planung sowie alle militärischen Fragen. Der entscheidende Punkt war strengste Geheimhaltung, nicht nur um zu verhindern, daß die Deutschen, sondern auch daß Mithäftlinge von der Sache Wind bekamen. Wie kalkulierten vor allem mit der Dreistigkeit der Deutschen, ihrem machtbesessenen Umgang mit den scheinbar gefügigen Juden, ihrem immergleichen Tagesrhythmus, ihrer eisernen Pünktlichkeit und ihrer Gier. Kurz gesagt, der Plan sah die heimliche Ermordung so vieler Nazis wie möglich innerhalb einer Zeitspanne von höchstens einer Stunde vor und dann einen offenen Aufstand.

Die wenigen Häftlinge, die dort arbeiteten, wo die für den Plan entscheidenden Schritte stattfinden sollten, trugen eine immense Verantwortung. Die „Putzer“ (junge Häftlinge, die als persönliche Diener der Nazis fungierten) und die Mädchen, die in Lager IV die konfiszierte sowjetische Munition sortierten, hatten die Aufgabe Munition zu klauen. Drei-Personen-Kampftruppen wurden aufgestellt, einschließlich einer Sondertruppe für den geplanten Angriff auf die Waffenkammer. Diese Truppen sollten mit Messern und Äxten bewaffnet sein, die eigens von den Tischlern und Schmieden angefertigt wurden. Die Waffen würden unauffällig unter den Gürteln und Jacken getragen werden. Man würde die Deutschen mit dem Versprechen ködern, daß einige besonders schöne Ledermäntel und Stiefel eingetroffen seien. Die Leute aus den Schneider- und Schusterwerkstätten würden die Nazis zu sorgfältig abgestimmten Terminen hintereinander zum Anprobieren in die Werkstätten bestellen, und dann würden alle paar Minuten Hinrichtungen stattfinden.

Das Tor von Lager II, wo die meisten Häftlinge arbeiteten, würde für alle bis auf die Eingeweihten gesperrt werden. Das ganze Lager bei der Flucht in Brand zu stecken wurde zwar von einigen in kleiner Runde erörtert, doch aus naheliegenden Gründen kam das nicht ernsthaft in Frage.

Zum Zeitpunkt des Ausbruchs würden sich die Häftlinge in Lager I aufhalten und gerade dabei sein, sich zum Appell fertigzumachen. Um die Ermordung der SS bis zur letzten Minute geheimzuhalten, sollte sich bis dahin möglichst nichts Ungewöhnliches ereignen.

Schritt 1 würde zwischen 15.30 Uhr und 16 Uhr beginnen. In dieser Zeit sollten Vorbereitungen getroffen werden, die voraussichtlich nicht allzu riskant sein würden. Man würde etwa eine halbe Stunde Zeit haben. Die Messen und Äxte würden verteilt werden, und die Hinrichtungskommandos würden sich unter der Leitung der Kapos Poźycki und Bunio im Hinterhalt postieren.

Schritt 2 sah die eigentliche Eliminierung der SS vor. Dieser Schritt würde sechzig entscheidende Minuten andauern, nämlich von 16 Uhr bis 17 Uhr. Während dieser Zeit würden alle anwesenden Deutschen heimlich getötet werden. Alles hing von der unauffälligen und zügigen Hinrichtung ab. Es war üblich, daß die SS-Männer, die die jeweiligen Arbeitsgruppen beaufsichtigten, während dieser Zeit frei hatten. Daher würde sich ein SS-Mann, der seinen – bereits ermordeten – Kameraden nicht an seinem Posten vorfand, zunächst keine weiteren Gedanken machen. Die Hinrichtung der Nazis mußte so leise wie möglich vonstatten gehen. Um das Unternehmen geheimzuhalten, durfte man in dieser Phase auf gar keinen Fall zu den Pistolen greifen, die man der ermordeten Deutschen würde abgenommen haben. Vor allem war es entscheidend, daß alles so weiterlief wie jeden Tag. Leon drängte sogar die Kapos, wie üblich von Ihren Peitschen Gebrauch zu machen. Man verständigte sich darauf, daß ein Mithäftling, der den reibungslosen Ablauf des Aufstands gefährdete, getötet werden durfte. Wenn alles gutging, würden die Kapos ihre Häftlingstrupps wie jeden Tag um 17 Uhr zurück in Lager I bringen.

Das Ergebnis von Schritt 3 – der Aufstand – würde davon abhängen, wie viele Nazis getötet und wie viele Waffen zur Verfügung stehen würden. Außerdem würde man abwarten müssen, wie geistesgegenwärtig die Wachen im Lager und in den Wachttürmen tatsächlich sein würden.

Wenn schließlich alle wieder in Lager I wären, sollten schnell die anderen informiert und zum Kampf angerufen werden. In der Zwischenzeit würde der Elektriker Walter Schwarz, ein deutscher Jude, den Generator des Lagers außer Betrieb setzen.

Selbst eine einzige Minute der Verzögerung nach 17.45 Uhr könnte den Plan zunichte machen. Spätestens jetzt, wenn die SS-Leute allmählich zum Abhalten des Appells im Hof eintrafen, würde die Abwesenheit eines Kollegen auffallen. Die restlichen Deutschen würden sofort merken, daß ein Teil der Belegschaft aus unerklärlichen Gründen nicht aufgetaucht war.

Kapo Poźycki würde etwas früher als üblich zum Appell pfeifen. Die Häftlinge würden sich in Reih und Glied aufstellen, aber statt auf die Deutschen zu warten, würden sie von den Kapos zum Haupttor geführt werden. Die Abwesenheit der wichtigen SS-Leute würde die Wachen glauben machen, die Deutschen hätten uns den Befehl gegeben, zu irgendeiner Arbeit loszumarschieren.  So würde es den Häftlingen gelingen, so nah wie möglich an das Haupttor zu kommen, ohne Verdacht zu erregen.

An der Waffenkammer würde sich eine bestimmte Gruppe vom Rest der Häftlinge entfernen und die Kammer stürmen. Dann sollte ein paar Meter weiter das streng bewachte Haupttor gestürmt und die Wachen überwältigt werden. Während des Gefechts sollten die Ukrainer davon überzeugt werden, nicht zu schießen, sondern statt dessen mit uns zu fliehen, da Stalins Sieg bevorstünde.

Im Falle eines unvorhergesehenen Problems würde improvisiert werden müssen. Würde die Verschwörung frühzeitig aufgedeckt, sollte sofort gekämpft werden. Um den verminten Bereich zu meiden, schlug Pechersky vor, die Zäune in der Nähe der Unterkünfte der Deutschen zum Hauptfluchtweg zu erklären. Zu Recht ging er davon aus, daß dieser Abschnitt nur mit Signalminen bestückt sei. Auf jeden Fall sollten erst Stöcke und Steine in die Minenfelder geworfen werden, um die Minen hochgehen zu lassen. In der Tischlerei wurden einige Leitern bereitgestellt, um damit über die Zäune zu klettern.

Im Hinblick auf die früheren gescheiterten Fluchtversuche und vor allem Berliners Verrat wurde die Anzahl der Eingeweihten auf ein absolutes Minimum beschränkt. Von insgesamt etwa 550 Juden, die zu jener Zeit im Lager lebten, wußten weniger als zehn Prozent von dem Vorhaben. Zum Leidwesen der Organisatoren gab es überhaupt keine Möglichkeit, mit Lager III in Verbindung zu treten, wo zirka dreißig Häftlinge arbeiteten. Diese würde man zurücklassen müssen. Der Tag unserer Flucht wurde auf den 13. Oktober festgelegt.

Am 11. Oktober traf ein weiterer kleiner Transport aus dem Osten ein, und bald hörte man Schüsse und Schreie aus Lager III. Wir durften weder unsere Arbeitsplätze verlassen noch hinaussehen. Wenig später erfuhren wir, daß die neuen Opfer erkannt hatten, was mit ihnen passieren sollte, Widerstand geleistet hatten und nackt auf die Zäune zugerannt waren. Viele wurden im Laufen niedergeschossen; der Rest wurde hingerichtet.

Am selben Tag kehrte Frenzel aus dem Heimaturlaub zurück und inspizierte gleich die Baracken. Ein paar Häftlinge lagen krank auf ihren Schlafplätzen. Ihre „Faulenzerei“ brachte ihn in Rage, und er jagte sei mit seiner Peitsche in den Hof und führte sie anschließend in die Gaskammern. Aus irgendeinem Grund verschonte er die einzige Frau, Selma Wijnberg, und befahl ihr, zurück an die Arbeit zu gehen.

Einer der Verdammten war ein junger Holländer, dessen Mutter, eine Wienerin, bei den SS-Männern des Lagers besonders beliebt war. Wagner, selbst Österreicher, war nämlich von ihren Jodelkünsten sehr angetan. Als sie sah, daß ihr Sohn weggeführt wurde, warf sie sich vor ihn, schrie und beschimpfte die Nazis als Mörder und Abschaum. Da sie sich weigerte, ihn im Stich zu lassen, stützte sie ihren geschwächten Jungen bis in Lager III, wo sie zusammen umkamen.

Hauptsturmführer Reichleitner und Gomerski waren einige Tage lang nicht im Lager gewesen. Jetzt, da Frenzel zurück war, konnte Wagner seinen Urlaub nehmen, und schon am nächsten Tag, dem 12. Oktober, reiste er mit vollgestopfen [sic] Koffern ab. Wagners Abreise stärkte unsere Kampfmoral ganz enorm. Er war grausam, aber dabei auch überaus intelligent. Ständig lief er umher und konnte urplötzlich an den unerwartetsten Orten auftauchen. Immer mißtrauisch und neugierig, ließ er sich nur schwer hinters Licht führen. Zudem war er von massiger Statur, und mit unseren primitiven Waffen hätten wir kaum etwas gegen ihn ausrichten können. Wir waren heilfroh, daß er aus dem Weg war.

Dann kam der 13. Oktober, der Tag unserer Rache. Nachdem die Arbeit begonnen hatte, schlich ich mich ins Lagerhaus für Männerkleidung und stattete mich mit dicker Unterwäsche und einem warmen Mantel aus; dann wartete ich aufgeregt, bis irgend etwas passierte. Kurz vor Mittag hörte ich Pfeifen und Lärm aus dem Bereich der Nazi-Garnison. Ich hatte schreckliche Angst. Jemand hat uns verraten, alles ist verloren, dachte ich.

Bald erfuhr ich jedoch, daß überraschend eine Gruppe deutscher Soldaten aus dem nahe gelegenen Arbeitslager Osowa eingetroffen waren. Erst dachten wir, unsere Verschwörung sei aufgeflogen, doch als Gelächter und der Gesang Betrunkener zu uns herüberdrangen, wurde uns klar, daß die Soldaten den Sobibór-Nazis bloß einen freundschaftlichen Besuch abstatteten. Nichtsdestotrotz wurde das Unternehmen erst einmal abgeblasen. Die Gäste könnten zusätzliche Gegner darstellen, und außerdem würde es nicht gelingen, ausgerechnet jetzt die Deutschen in die Werkstätten zu bestellen. Rasch wurde mit den Werkstätten vereinbart, die Termine mit den wichtigsten SS-Leuten auf den nächsten Tag zu verschieben. Glücklicherweise ging alles glatt.

Bei der Krisensitzung an diesem Abend wirkten die Verschwörer deprimiert und angespannt. Sie betrachteten den Vorfall als böses Omen, hinzu kam, daß nächsten Tag Laubhüttenfest, ein Feiertag, war. Doch Leon, der Sohn eines Rabbis, beschloß, daß die Sache auf keinen Fall weiter aufgeschoben werden dürfte. Der Aufstand würde am nächsten Tag nach Plan vonstatten gehen. Messer, Beile, kleine Äxte und warme Kleidung wurden verteilt.

Quelle

Thomas T. Blatt, Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, 2. Aufl., Berlin 2002 [Dt. Erstausg. 2000, Originalausg. 1997], S. 188-193.

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